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17 | Briefe von Ferdinand Kürnberger | Heft 294-295 31. 1. 1910 | XI. JAHR |
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Briefe von Ferdinand Kürnberger*)
Klobenstein, den 10. September 1875.
Verehrter Freund!
In solchen Stunden lebe ich wie ein abgeschiedener seliger
Geist. Ich komme buchstäblich in die Illusion, daß ich in Wien gestorben bin und in Klobenstein auferstanden. Gestorben ist die Börse, das Kaffeehaus, das Pflastertreten, der Straßenlärm, das Werkeln, der Zeitungstratsch. Wie sehe ich hier eine Wiener Zeitung an! Wohl, die Hauptstadt muß für das ganze Reich denken, aber sie denkt schlecht! So oft die Zeitung auf den Tisch aufgelegt wird, kommt mir der Tisch befleckt vor, — der Tisch, an dem die alte Frau Pascoli präsidiert, die ehrwürdigste Patriarchin die ich je kennen gelernt.Ich finde diese Frau weit über meiner Erwartung. Daß ich
es nur gestehe, Ihr Haus hat mir nicht das richtige Bild beigebracht. Sie betonten mir immer in erster Linie ihren Humor, über die Pfaffen zu schimpfen, — »und doch ist sie fromm«, setzten Sie dann hinzu. Ich möchte es jetzt umgekehrt formulieren. Zuerst ist sie fromm; die Religiosität der stärkste Zug ihres Charakters, das Urchristentum ihr lebendigstes Herzensbedürfnis. Und erst weil sie als Urchristin von den Nachchristen sich betrogen sieht, schimpft sie über die Pfaffen. Es ist ganz das nämliche Verhältnis, wie wenn wir den Hamlet in einer Schmiere und den Don Juan von Bänkelsängern aufgeführt sehen. Es ist der Schmerz über ein*) Mitgeteilt von Luise Hackl — anläßlich des Erscheinens des
ersten Bandes der Gesammelten Werke von Ferdinand Kürnberger (Verlag Georg Müller, München und Leipzig), der »Siegelringe«, einer Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Diese bisher unver- öffentlichten Briefe sind an den Politiker Dr. Josef Kopp und dessen Gattin gerichtet. Im September 1875 weilte Kürnberger zu Besuch in Klobenstein auf dem Berge Ritten nächst Bozen, bei der Mutter (Frau Pascoli) und der Schwester (Frau v. Atzwang) der Frau Kopp. »Wer mir begegnet und mich fragt: Was arbeiten Sie jetzt? Dem ant- worte ich: Briefe«, schrieb Kürnberger einmal an eine Dame. Und er fährt fort: »Ich habe es immer gesagt und sage es bei jeder Gelegen- heit: Ein Schriftsteller, auch wenn er noch so viele Bände hinterläßt, repräsentiert damit nur den kleineren Teil seiner Tätigkeit; das Meiste, was er geschrieben hat, sind Briefe«. Diese Auffassung Kürnbergers rechtfertigt die Publikation seiner Briefe. Nicht jeder Autor vertrüge so gut die Herausgabe seiner Korrespondenz, die vor Kurzsichtigen leicht eine Entstellung des geistigen Bildes bewirkt.