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46 | KARL KRAUS: Glossen | Heft 305-306 20. 7. 1910 | XII. JAHR |
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Das Paradies der Erpresser
Ein ehemaliger Offizier erschien bei einem ihm bis dahin
unbekannten Frauenarzt und verlangte sechstausend Kronen; im Weigerungsfalle werde er ihn wegen sieben Fruchtabtreibungen der Staatsanwaltschaft anzeigen. Der Arzt wies den Mann ab. Drei Tage darauf erhielt er einen rekommandierten Brief, in dem die Drohung wiederholt, mit dem »Offiziersehrenwort« bekräftigt und ihm ein letzter Termin gesetzt wurde. Der Oberleutnant wurde wegen Erpressung angeklagt. In der Verhandlung erklärte er, er habe aus ethischer Überzeugung gehandelt und den Arzt durch den Erlag der Summe einen Schuldbeweis erbringen lassen wollen. Der Arzt erklärte, er habe keine Furcht gehabt, da er ein gutes Gewissen habe. Der Gerichtshof sprach den Angeklagten frei. Dieser habe zweifellos in gewinnsüchtiger Absicht gehandelt, aber da sich der Bedrohte nicht gefürchtet habe, liege keine Er- pressung vor. Für die österreichischen Erpresser eröffnet sich somit eine neue Chance. Entweder — so war es schon bisher — hat der Bedrohte ein schlechtes Gewissen: dann zahlt er, und der Erpresser lebt herrlich und in Freuden. Oder — das ist die neue Ära — der Bedrohte hat ein gutes Gewissen: dann wird der Erpresser freigesprochen und versucht es ein Haus weiter mit mehr Glück. Bis jetzt wurde er bloß nicht angeklagt, weil der Bedrohte eher zahlte als daß er zugab, ein schlechtes Gewissen zu haben. Jetzt wird er angeklagt, aber nur dann eingesperrt, wenn sich auch der Bedrohte einsperren läßt, das heißt, wenn er eher zugibt, ein schlechtes Gewissen zu haben, als daß er zahlt. Früher erpreßte nur der Erpresser; jetzt hilft ihm dabei die Justiz. Der Staats- anwalt hatte den Arzt gefragt, ob er nicht auch im Falle des guten Gewissens »fürchten mußte, daß eine polizeiliche Anzeige gegen ihn im Kreise seiner Kollegen peinlich wirken könnte«. Als der Zeuge dies für ausgeschlossen erklärte — weil bekanntlich noch nie ein Wiener Frauenarzt vom andern geglaubt hat, daß er Frucht- abtreibung begehe und weil Fruchtabtreibung eine Handlung ist, die die Frauenärzte noch entschiedener verpönen als das Gesetz —, war der Gerichtshof beruhigt. Um den Erpresser zu verurteilen, hätte er das Geständnis des Arztes gebraucht, daß er ein schlechtes Ge- wissen habe. Da dieser es trotz wiederholter eindringlicher Befragung nicht zugeben wollte, blieb dem Gerichtshof nichts übrig als den Erpresser freizusprechen, mit der Begründung, daß bei dem über