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31 | Brot und Lüge | Heft 519-520 11. 1919 | XXI. JAHR |
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uns dennoch zu früh entrückt: sie hätten uns, als
die unverkennbaren Exponenten des Jammers, noch ein Weilchen, noch bis in die unterste Tiefe begleiten und dann erst verlassen sollen, damit eine Welt, die durch Schaden dumm wird, ohne Sehnsucht nach ihnen hinsterbe und ohne den Drang, sie noch einmal zu erleben. Denn das fatalste Erbe, das uns die Dynasten hinterlassen haben, ist nicht die Not, sondern der Fluch einer Geistesverfassung, durch die wir unfähig geworden sind, die Erlösung von ihnen als den wahren Ertrag unsres Leidens zu empfinden, als dessen eigentlichen Sinn zu werten, und unwürdig werden ihres Verlustes. Dieser Zustand einer Gehirn- und Charaktererweichung, durch sieben Jahrzehnte sub auspiciis befördert, ist ein solcher, daß die Menschen hierzulande nicht nur in der Grund- erfassung des Übels straucheln, sondern vor jeder Misere des Tags, zu der sie ihre Kriegführung verurteilt hat, Täter und Helfer verwechseln, und daß etwa der Bestohlene dem Wächter die Schuld gibt und sich beim Dieb beschwert und wenn der Dieb gegen den Wächter gewälttätig wird — was des Landes so der Brauch ist —, der Bestohlene einen unerhörten Übergriff des Wächters ausruft. Ein Schwächezustand, aber ohne den Naturreiz der hurischen Empfindung, deren Verhängnis es ist, den Zuhälter gegen die Polizei in Schutz zu nehmen. Sie tragen auch kein Bedenken, dem Helfer die unsauberen Motive zu unterschieben, die sie im eigenen Geschäftskreis zum unrettbaren Opfer der Ausbeutung machen, denn jeder, der seine Tasche preisgibt, duldet ja nur unter dem Vorbehalt, daß er es selbst auf die des Räubers abgesehen habe. Wahrlich, sie waren eher bereit, dem Vaterland eine Generation zu opfern als die nun leeren Zimmer! Und rätselhaft bleibt, wie der unbedankte Wille, die Prokura der Not zu führen in einer Sphäre, in der sich heute nur noch